Volvo Trucks

Deutschland

Das richtige Feeling – so wurde IFS entwickelt

Die Aufgabe war klar definiert: ein Aufhängungssystem zu entwickeln, das die Lkw von Volvo in puncto Handling und Komfort an die Weltspitze setzt. Dieses Ziel umzusetzen, war allerdings eine Herausforderung.
Ingenieur bei der IFS-Erprobung.
An der Entwicklung der vorderen Einzelradaufhängung IFS (Individual Front Suspension) hat Volvo Trucks mehr als zehn Jahre gearbeitet.

Die Lkw-Industrie ist in Bezug auf neue Technologien konservativ. Aus diesem Grund wurde das von Volvo Trucks präsentierte Novum einer vorderen Einzelradaufhängung für Lkw mit einigem Stirnrunzeln quittiert.

Der leitende Ingenieur Jan Zachrisson erklärt, warum die Einzelradaufhängung vorn (IFS, Individual Front Suspension) bei ihrer Einführung im Herbst 2012 so viel Aufsehen erregte. „Teile des heutigen Aufhängungssystems basieren im Prinzip auf der gleichen Technik, wie sie in den Pferdekutschen des 18. Jahrhunderts verwendet wurde. Die Vorderräder eines schweren Nutzfahrzeugs so voneinander zu entkoppeln, dass sie ihren Dienst unabhängig voneinander verrichten können, gleicht einer Revolution.“ 

Bevor Jan Zachrisson am IFS-System zu arbeiten begann, wirkte er an der Aufrüstung des vorhandenen vorderen Fahrgestells mit Luftfederung für den neuen Volvo FH mit. Durch seine frühere Tätigkeit bei Volvo Busse besaß er außerdem Erfahrung im Arbeiten mit Einzelaufhängungssystemen, da diese Technologie in der Busindustrie bereits seit fast 30 Jahren eingesetzt wird.

„Die heutigen vorderen Fahrgestelle mit Parabel- und Luftfederungssystemen sind so gut, dass für die Weiterentwicklung dieser Techniken nicht mehr viel Raum bleibt. Mit der Einführung von IFS schreiben wir die ersten Kapitel in einem völlig neuen Buch und verändern den Eindruck des Fahrers davon, wie es sich anfühlt, einen Lkw zu fahren.“

Mit der Einführung von IFS schreiben wir die Einleitungskapitel eines völlig neuen Buchs und verändern den Eindruck des Fahrers davon, wie es sich anfühlt, einen Lkw zu fahren.

Den ersten Entwurf des Buchs über IFS stellte Volvo Trucks bereits vor mehr als zehn Jahren vor. Zu dem Zeitpunkt waren erste Prototypen des Systems konzipiert, aber erst 2008 wurde ernsthaft mit den Entwicklungsarbeiten begonnen. In den letzten fünf Jahren hat Bror Lundgren ein 15-köpfiges Projektteam geleitet und mit ihm die neue Technologie entwickelt. 

„Wir hatten die Aufgabe, eine Konstruktion zu finden, die die Lkw von Volvo in puncto Handling und Komfort zu den besten der Welt macht. Da ein Teil der Arbeit bereits getan war, konnten wir auf eine hervorragende Grundlage aufbauen, aber das wichtigste Entwicklungsmoment – der Übergang vom Konzept zum industriellen Projekt – lag noch vor uns“, erklärt Bror Lundgren.

 

Es ist kein Zufall, dass Bror Lundgren mit seiner Erfahrung mit Einzelaufhängungssystemen in der Pkw-Industrie zum Leiter der Entwicklung des IFS-Systems von Volvo Trucks ausgewählt wurde.

Das Grundprinzip des Systems ist bei Pkw und Lkw identisch – die Einzelaufhängung der Räder macht das Fahrzeug auf der Straße stabiler und berechenbarer. 

In der Konstruktion unterscheiden sich die Systeme jedoch. Die größte Herausforderung, mit der die Ingenieure von Volvo Trucks konfrontiert waren, lautete Raum und Steifigkeit. 

In einem Pkw wird die Steifigkeit im System durch den Rahmen erzeugt, an dem die Achse befestigt ist. Diese Lösung ist jedoch bei einem Lkw aus zwei Gründen nicht möglich. Zum einen befindet sich der Motor in denselben Bereichen wie die Aufhängung. Zum anderen ist die Rahmenstruktur, an der das System befestigt ist, im Verhältnis zur Fahrbahn höher positioniert. Folglich lässt sich die natürliche Steifigkeit eines Pkw nicht in einem Lkw nachbilden.

Die Lösung besteht in einem Design, bei dem die beweglichen Teile des Systems von zwei Hilfsrahmen zusammengehalten werden, die der Unterseite des Motors folgen. 

„Es darf keine Seitwärtsbewegungen geben, also haben wir uns in erster Linie darauf konzentriert, die Rahmenstruktur des IFS-Systems so sehr zu verstärken wie nur möglich“, erläutert Bror Lundgren.

„Als sich unsere Konstruktion an den Tests im Prüfstand bewährte und uns klar wurde, dass sie wie beabsichtigt funktionieren wird, war das ein großer Triumph“, fügt er hinzu.  

Prüfstandtests sind eine wichtige Reihe von Tests, die bei der Entwicklungsabteilung von Volvo Trucks im schwedischen Göteborg durchgeführt werden. Überall in der Prüfanlage kann man einen leichten Ölgeruch wahrnehmen, und auf dem gesamten Gelände ist ein anhaltender Piepton zu hören, der von dem Hydrauliksystem ausgeht, das zu dem gigantischen Rüttelprüfstand führt. 

„Wir nennen ihn T-Rex. Er ist der größte Rüttelprüfstand der Welt. Insgesamt wiegt er über 1.200 Tonnen“, berichtet Prüfingenieur Emil Skoog, der in der Anlage arbeitet. 

Ein Kolben- und Zylindersystem rüttelt in unterschiedlichen Abständen die Achse, so dass das IFS-System im Prüfstand gewaltigen Kräften ausgesetzt wird. Den Signalen, die das Rütteln steuern, liegen Daten zugrunde, die von einem Testfahrzeug auf der Teststrecke von Volvo Trucks in Hällered bei Göteborg gesammelt wurden.

„Auf der Teststrecke wird das Testfahrzeug einer Reihe aufreibender Praxistests unterzogen. An der Achse sind Sensoren angebracht, die während der Tests Kräfte und Bewegungen registrieren“, erklärt Bror Lundgren.

Im Rüttelprüfstand wird die Konstruktion viel stärker belastet, als es jemals in der Wirklichkeit der Fall wäre. So wird gewährleistet, dass das System die notwendige Stabilität besitzt.

Diese Daten werden übertragen und anschließend im Rüttelprüfstand eingesetzt, um die Verhältnisse auf der Teststrecke nachzubilden. Die verwendeten Daten simulieren nur diejenigen Teile der Teststrecke, auf denen das Testfahrzeug den stärksten Belastungen ausgesetzt ist. Auf diese Weise werden die Tests zeitlich optimiert, da es keine unnötigen Fahrten oder andere Arten von Nutzungsausfällen gibt.   

„Im Rüttelprüfstand wird die Struktur viel stärker belastet, als dies jemals im wirklichen Leben der Fall wäre, um sicherzustellen, dass das System die notwendige Stabilität besitzt“, erläutert Bror Lundgren. 

Im Rüttelprüfstand wird die Achse in einem Zeitraum von zehn Wochen hundertfach getestet. Bror Lundgren blickt zu der Testachse im Prüfstand und erklärt, wie wichtig diese Vielzahl von Tests ist.

 

„Wir haben eine Verantwortung gegenüber unseren Kunden, und diese besteht darin, zu testen und solange weiterzutesten, bis wir sicher sind, dass das System produktionsreif ist. Da wir diese neue Technologie in der Zukunft einsetzen werden, ist es auch wichtig, dass wir verifizieren, wie sie funktioniert. Wir müssen die gewonnenen Erkenntnisse dokumentieren.“

Das Ergebnis von fünf Jahren Entwicklungsarbeit ist die erste serienproduzierte Einzelradaufhängung vorn für schwere Lkw. Doch welches sind die größten Vorteile dieser neuen Technologie? 

„Die Handlingeigenschaften sind ganz einfach revolutionär. Als Fahrer kann man sich auf eine ganz andere Art entspannen, und dies erzeugt ein völlig anderes Gefühl der Sicherheit und Stabilität verglichen mit einer herkömmlichen Vorderradaufhängung“, erklärt Jan Zachrisson.  

Bror Lundgren pflichtet ihm bei und veranschaulicht den Unterschied mit einem Bild zweier Wasserbälle.

„Bei einer Achse mit Parabel- oder Luftfederung sitzt man oben auf dem Wasserball und ist häufig gezwungen, gestützt auf die eigenen Sinneswahrnehmungen Gegenbewegungen zu machen, um das Gleichgewicht zu halten. Beim IFS-System befindeet man sich dagegen quasi im Inneren des Wasserballs und hat mehr Kontrolle über die eigene Situation. Dies erzeugt ein stärkeres Gefühl der Sicherheit.“ 

Als Fahrer kann man sich auf eine ganz neue Art entspannen, und dies erzeugt ein völlig anderes Gefühl der Sicherheit und Stabilität als bei einer herkömmlichen Vorderradaufhängung.

Das verbesserte Lenkrad-Feedback infolge der in das System integrierten Zahnstangenlenkung – eine Technologie, die zudem in der Lkw-Branche völlig einzigartig ist – ist ein entscheidender Faktor für die hervorragenden Fahreigenschaften des Lkw.

Im Rüttelprüfstand startet Emil Skoog das Testprogramm für den Tag. Die Kolben beginnen zu arbeiten, und die zu prüfende Achse schwingt auf- und abwärts. Der luftgefederte Boden, auf dem der Prüfstand steht, bewegt sich, und die wellenartigen Bewegungen sind deutlich zu spüren.

„Verglichen mit einem herkömmlichen Lenkgetriebe ist die Zahnstangenlenkung ein starreres Lenksystem, das ein direkteres Ansprechen bewirkt. Es vergeht weniger Zeit zwischen Gedanke und Handlung, und dies verstärkt das Gefühl von Kontrolle und Sicherheit noch weiter“, fügt Jan Zachrisson hinzu.

Bror Lundgren ist überzeugt, dass mit der Einführung von IFS ein neues Kapitel in der Geschichte der Automobiltechnik aufgeschlagen wird, was die Radaufhängungssysteme in der Lkw-Industrie angeht.

„Es ist uns gelungen, das Gefühl des Lkw-Fahrens neu zu definieren. Jan Zachrisson sagt, dass wir das erste Kapitel des Buchs geschrieben haben, das den Namen 'IFS' trägt. Ich bin davon überzeugt, dass dieses Buch zahlreiche Kapitel enthalten wird.“ 

 

Funktionsweise: Hauptbestandteile von IFS

Die Herausforderung für die Konstrukteure bestand darin, eine Konstruktion mit mehreren beweglichen Bauteilen zu schaffen, die als feste Einheit funktioniert. Dies ist ihre Lösung.

1. Zahnstangen-Servolenkgetriebe
Die Bewegungen des Lenkrads werden auf das Zahnstangen-Servolenkgetriebe übertragen. Danach wird die Bewegung auf die Spurstange und die Kugelgelenke an jeder Seite übertragen und dann auf die Lenkhebel. Vom Lenkhebel geht die Bewegung auf die Antriebswelle und anschließend auf das Rad über.

2. Stoßdämpfer
Die Stoßenergie wird von Stoßdämpfern absorbiert, die an einer Halterung an der Stangeneinheit und oben am Fahrgestellrahmen befestigt sind.

3. Stangeneinheit
Oberer und unterer Querlenker, Stoßdämpfer, Antriebswelle, Luftfederbälge und das Lenksystem: All diese Bauteile sind mit der Stangeneinheit verbunden. Um der extremen Belastung standzuhalten, ist die Stangeneinheit in einem Stück aus einem hochfesten Material gefertigt. Die korrekte Neigung von Schwenkrolle und Achsschenkelbolzen ist in die Konstruktion integriert und bietet hervorragende Handlingeigenschaften sowie minimalen Reifenverschleiß.

4. Hilfsrahmen
Die oberen und unteren Querlenker sind an einem Hilfsrahmen montiert, der die gesamte Konstruktion in Position hält. Die gusseiserne Hilfsrahmenstruktur ist am Fahrgestellrahmen befestigt.

5. Doppelte Querlenker
Die Vorderräder sind an beiden Seiten mit einer Stangeneinheit verbunden, die an einem oberen und einem unteren Querlenker im Fahrgestell aufgehängt ist. Eine Luftfeder zwischen Stangeneinheit und Rahmenstruktur trägt die Last und federt während der Fahrt die durch Fahrbahnstöße erzeugten dynamischen Bewegungen ab.